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Kein Zeitgenosse kann den Wert der Taten meines Sohns einschätzen. Muad'dibs Vermächtnis lässt sich nur auf einer Skala beurteilen, die die Dauer eines Menschenlebens übersteigt. Die Zukunft trifft ihre eigenen Entscheidungen über die Vergangenheit.
Lady Jessica, Herzogin von Caladan
In dem Wissen, dass Alia es nun mit den turbulenten Nachwirkungen von Pauls Tod zu tun hatte, beschloss Jessica, nach Arrakis aufzubrechen. Sie wollte bei ihrer Tochter sein und ihr helfen, so gut sie konnte. Sie schickte eine offizielle Nachricht an den Qizara Isbar und teilte ihm mit, dass sie und Gurney Halleck beabsichtigten, Caladan so schnell wie möglich zu verlassen. Die Delegation des Priesters bemühte sich hektisch, ihren Wünschen zu entsprechen.
Das militärisch aufgerüstete Gildenschiff blieb in der Umlaufbahn, und Gurney bereitete alles für einen Flug mit einer luxuriösen alten Atreides-Fregatte vor, die in einem privaten Hangar am Raumhafen stand. Das reich verzierte Raumschiff war ein Arbeitspferd, das noch vom Alten Herzog Paulus in Dienst gestellt worden war, und Jessica erinnerte sich, dass Leto es für ihre erste Reise nach Arrakis benutzt hatte. Alles, was wir tun, trägt historischen Ballast mit sich, dachte sie.
Während Gurney dem Piloten knappe Anweisungen erteilte, erschien der unterwürfige Priester im leeren Hangar und verbeugte sich tief. »Die Besatzung des Heighliners steht zur Ihrer freien Verfügung, Mylady. In Muad'dibs Namen haben wir das Schiff bereits nach Caladan umgeleitet, damit wir Ihnen die traurige Nachricht überbringen können. Die Wünsche der verspäteten Passagiere sind nicht dringlicher als Ihre.«
»Passagiere? Ich war davon ausgegangen, dass es sich um ein Militärschiff unter dem Kommando des Qizarats handelt.«
»Nachdem der Djihad für beendet erklärt wurde, sind viele der militärisch genutzten Einheiten wieder als Passagierschiffe in Dienst gestellt worden. Wir haben den ersten verfügbaren Heighliner genommen, nachdem Regentin Alia mich anwies, Ihnen die Nachricht vom Tod Muad'dibs zu überbringen. Kann es eine Angelegenheit von größerer Wichtigkeit geben? All die anderen Menschen können warten.«
Gurney ließ ein schweres Stück Gepäck auf die Rampe der Fregatte fallen und murmelte dabei vor sich hin. Obwohl diese beiläufige Machtdemonstration sie nicht überraschte, beunruhigte es Jessica, dass Isbar einfach so ein komplettes Raumschiff mit vollem Frachtraum und jeder Menge Passagieren umleiten konnte. »Nun gut, dann wollen wir uns beeilen.«
Isbar trat näher, und Jessica sah das Flehen und die blinde Ehrfurcht in seinen Augen. »Darf ich mit Ihnen an Bord der Fregatte gehen, Mylady? Es gibt so viel, was ich von der Mutter Muad'dibs lernen könnte. Ich wäre Ihr andächtiger Schüler.«
Doch sie hatte keinen Bedarf an Speichelleckern. Sie wollte diesen Priester nicht als ihren Schüler, ob nun andächtig oder nicht. »Bitte reisen Sie in Gesellschaft Ihrer eigenen Delegation. Ich benötige Ruhe für meine Gebete.«
Enttäuscht antwortete Isbar mit einem ernsten Nicken und zog sich aus dem Hangar zurück. Er verbeugte sich immer noch, als Jessica und Gurney die Fregatte bestiegen. Hinter ihnen schloss sich das verzierte Schott. Gurney sagte: »Paul hätte nur Verachtung für diesen Mann übrig gehabt.«
»Isbar unterscheidet sich nicht von den anderen Priestern, die sich in Form einer Machtpyramide um Muad'dib herum angeordnet haben – und um sein Vermächtnis. Mein Sohn war ein Gefangener seines eigenen Mythos. Im Laufe der Jahre wurde mir – genauso wie ihm – bewusst, wie viel Kontrolle er bereits verloren hatte.«
»Wir haben uns selbst aus der Gleichung gestrichen, Mylady«, sagte Gurney und zitierte dann ein bekanntes Sprichwort: »›Jene, die lediglich aus dem Schatten zuschauen, können sich nicht über die Helligkeit der Sonne beklagen.‹ Vielleicht können wir jetzt einiges wiedergutmachen, wenn Alia es uns erlaubt.«
Auf dem Flug zum Heighliner versuchte Jessica sich zu entspannen, während Gurney sein Baliset hervorholte und leise darauf spielte. Sie befürchtete, dass er bereits eine Trauerhymne für Paul komponiert hatte, aber sie war noch nicht bereit, sie sich anzuhören. Zu ihrer Erleichterung spielte er lediglich eine vertraute Melodie, von der er wusste, dass sie zu ihren Lieblingsliedern gehörte.
Sie betrachtete sein zerklüftetes Gesicht, das gelichtete blonde Haar, das immer grauer wurde, und die auffällige Inkvine-Narbe. »Gurney, du weißt immer ganz genau, welches Stück du spielen solltest.«
»Reine Übungssache, Mylady.«
Nachdem sie im Laderaum des Heighliners angedockt hatten, verließen Jessica und Gurney den Luxus ihrer Fregatte und begaben sich in die allgemein zugänglichen Bereiche. In unauffälliger Kleidung zogen sie keine Aufmerksamkeit auf sich, als sie auf das Promenadendeck traten. Isbar hatte ihnen seine Version vom Tod Muad'dibs erzählt, und jetzt wollte Jessica hören, was die Menschen sagten.
Manche Passagiere verließen nie ihre Privatraumschiffe im großen Frachtraum, aber viele von denen, die sich auf einer längeren Reise mit vielen Zwischenstopps und Umwegen befanden, vertrieben sich auf den Gemeinschaftsdecks des Heighliners die Zeit und besuchten Restaurants, Bars und Geschäfte.
Jessica und Gurney überquerten die riesigen offenen Decks und betrachteten die Waren, die hier feilgeboten wurden und von den unterschiedlichsten Planeten stammten. Manche Verkäufer hatten bereits Stücke im Angebot, die an die Herrschaftszeit und den Tod Muad'dibs erinnerten, was sie bestürzte, worauf Gurney sie von den Auslagen wegzerrte. Er führte sie zu einer hell erleuchteten Gaststätte, die nur aus Plaz, Kristall und Chrom zu bestehen schien und mit lärmenden Gästen gefüllt war. An den Wänden waren Spirituosen in allen erdenklichen Farben aufgereiht, Spezialitäten von zahllosen Welten.
»Hier ist der beste Ort zum Lauschen«, sagte Gurney. »Wir werden uns einfach setzen und an den Gesprächen teilhaben.« Mit einem schwarzen Wein für Jessica und einem schäumenden, bitteren Bier für Gurney saßen sie sich gegenüber. Und hörten zu.
Das vagabundierende Volk der Waykus stellte an Bord aller Gildenschiffe das Verkaufspersonal. Es waren schweigsame, ungewöhnlich gleichartige Menschen, die für ihre sachliche Dienstbeflissenheit bekannt waren. Wayku-Kellner in dunklen Uniformen liefen fast unbemerkt zwischen den Gästen umher, um Tische abzuräumen und bestellte Getränke zu bringen.
Das Hauptthema der Gespräche war der Tod Muad'dibs. An den Tischen wurden leidenschaftliche Debatten darüber geführt, ob Jessicas Sohn ein Erlöser oder ein Ungeheuer gewesen war, ob die korrupte und dekadente Herrschaft der Corrinos der klaren, aber gewalttätigen Politik Paul Muad'dibs vorzuziehen war oder nicht.
Sie verstehen nicht, was er getan hat, dachte sie für sich. Sie werden niemals verstehen, warum er nur so und nicht anders entscheiden konnte.
An einem Tisch artete das Streitgespräch in Schreie und wüste Drohungen aus. Stühle wurden umgeworfen, und zwei Männer mit geröteten Gesichtern erhoben sich, um sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Einer warf ein Messer, worauf der andere einen Körperschild aktivierte. Der Kampf setzte sich fort, bis der Mann mit dem Schild nach einem langsamen Messerstich tot am Boden lag. Die Menge in der Bar hatte zugesehen, ohne irgendetwas dagegen zu unternehmen. Wenig später kamen Sicherheitskräfte der Gilde, um die Leiche fortzuschaffen und den verwirrten Mörder festzunehmen, der anscheinend gar nicht fassen konnte, wozu sein Zorn ihn getrieben hatte.
Während sich die anderen ganz auf die Auseinandersetzung konzentrierten, beobachtete Jessica, wie die Wayku-Kellner die Tische umkreisten. Sie bemerkte einen, der verstohlen bedruckte Blätter auf leere Tische legte und sich dann lautlos entfernte. Es geschah so beiläufig, dass es ihrer Aufmerksamkeit entgangen wäre, wenn sie nicht bewusst darauf geachtet hätte.
»Gurney.« Sie zeigte in die Richtung, und er schlich sich davon, um eine der Broschüren zu holen. Als er zurückkehrte, konnte sie einen Blick auf den Titel werfen: Die Wahrheit über Muad'dib.
Seine Miene verfinsterte sich. »Wieder eins von diesen skurrilen propagandistischen Pamphleten, Mylady.«
Jessica überflog die Seiten. Manche Behauptungen waren so absurd, dass man nur darüber lachen konnte. Andere jedoch nannten die Exzesse beim Namen, die Paul in seinem Djihad zugelassen hatte, und gingen auf die Korruption in Muad'dibs Verwaltung ein. Darin schien deutlich mehr Wahrheit zu stecken. Bronso von Ix machte schon seit Jahren derartige Probleme, und er war so gut bei dem, was er tat, dass er sich bereits einen legendären Ruf erworben hatte.
Jessica wusste, dass weder Pauls größte Kritiker noch seine eifrigsten Bewunderer ihren Sohn wirklich verstanden hatten. Hier in dieser Bar war soeben ein Mann getötet worden, weil er nicht von seinem Glauben abrücken wollte, weil er gedacht hatte, er hätte Pauls Motive und Intentionen begriffen. Muad'dibs Bestimmung war viel zu groß, seine Ziele waren viel zu komplex, subtil und langfristig geplant, als dass irgendjemand, Jessica eingeschlossen, sie jemals in ihrem gesamten Ausmaß erfassen konnte. Das hatte sie inzwischen akzeptiert.
Gurney zerknüllte das Pamphlet und warf es angewidert fort, während Jessica den Kopf schüttelte und sich wünschte, dass alles anders gekommen wäre. Trotzdem erfüllte Bronso seinen Zweck, genauso wie sie alle.